Darf ein Therapeut zu politischen Themen Stellung beziehen?

Dürfen Therapeutinnen und Therapeuten sich öffentlich zu politischen Themen äußern? Wann wird es zur fachlichen Verantwortung – und wann kann es die gebotene professionelle Distanz gefährden? Erhalten Sie hier einen Einblick in die Chancen und Grenzen von Stellungnahmen im Spannungsfeld zwischen Ethik und Expertise.
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Vor ein paar Tagen erschien in der Frankfurter Rundschau ein kurzer Artikel, in dem ich auf Besorgnis erregendes Verhalten von Friedrich Merz in Bezug auf Wortbruch und möglicherweise manipulativen Absichten hinwies. Dieser Artikel hat kontroverse Ansichten ausgelöst. Hierzu ein paar Gedanken meinerseits.


Darf ein Therapeut politisch sein? Darf ein Therapeut eine Ferndiagnose stellen?
Auf beide Fragen könnte man mit Jein antworten.

Ein Therapeut sollte neutral sein und keine Eigeninteressen verfolgen, jedoch fordern z.B. die DGPT (Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie Psychosomatik und tiefenpsychologische Therapie) und die DGSF (Deutsche Gesellschaft für systemische Therapie Beratung und Familientherapie) ausdrücklich zur Verteidigung demokratischer Grundwerte auf. Therapie ist kein politisches Vakuum, sondern mitten im gesellschaftlichen Kontext verwoben. Therapie lebt im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Eine klare Haltung zu den Grundwerten ist meines Erachtens notwendig.

Die aus 1964 von amerikanischen Psychiatern stammende so genannte „Goldwater Regel“ besagt, dass Therapeuten keine Ferndiagnosen stellen sollten, ohne die betroffene Person eingehend untersucht zu haben. Diese Regel wird jedoch heutzutage zunehmend kritisiert.


Nichtsdestotrotz haben zahlreiche Psychotherapeuten im Laufe der Jahrzehnte Ferndiagnosen über bekannte politische Persönlichkeiten gestellt. Bereits 1948 erschien ein Buch des polnischen Psychoanalytikers Gustav Bychowski mit Psychogramm über fünf Diktatoren: Caesar, Cromwell, Robespierre, Hitler und Stalin. Die psychoanalytische Biografie hatte schon damals Tradition und hat sie bis heute. Auch über den aktuellen amerikanischen Präsidenten haben sich zahlreiche Psychologen und Psychoanalytiker ausgelassen. Einen Artikel dazu habe ich unten verlinkt.

Interessant sind auch die Schriften des amerikanischen Sozialwissenschaftlers Lloyd de Mause, in dessen Werk „Das emotionale Leben der Nationen“ aus 2005 die These vertreten ist, dass die Ursachen für Kriege und andere Formen von sozialer und politischer Gewalt in der Kindererziehung zu suchen sind und dass diese als Wiederaufführung früherer Traumata verstanden werden müssten.
Sowohl kollektive als auch persönliche Erfahrungen bestimmen das Verhalten von Machthabern und Politikern.

Ich habe über Herrn Merz keine Diagnose gestellt, das darf ich nicht und würde mir das niemals anmaßen. Ich habe lediglich narzisstische Verhaltensweisen aufgezeigt, die sich in einer Kombination aus Überhöhung und Abwertung durch Lügen, Wortbruch und Manipulationsversuchen ausdrücken. Eine Diagnose ist das nicht, lediglich eine Einschätzung.

In einer Demokratie, die zum einen von der Meinungsfreiheit und zum anderen von der kollektiven Verantwortung für das Gemeinwohl und dem Respekt der demokratischen Ordnung lebt, ist das meines Erachtens zulässig.

Die Beobachtung des Geschehens, meine Erfahrung sowie meine Expertise auf diesem Gebiet erlauben mir dies zu tun.



Quellen:

Werner Köpp „Politische und soziale Verantwortung von Psychotherapeuten“ 2012, Psychotherapeut S. 113-120,

Lloyd de Mause „Das emotionale Leben der Nationen“ 2005, Drave

Dorsch „Lexikon der Psychologie“ Die Goldwater-Regel 2021, Hogrefe

Karin Zinert-Eilts „Der destruktive Populismus Donald Trumps – eine psychoanalytische Perspektive“  https://dpg-psa.de/der-destruktive-populismus-donald-trumps-eine-psychoanalytische-perspektive.html zuletzt aufgerufen am 20.02.2025

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